Brüderchen und Schwesterchen
Eine tiefenpsychologische Interpretation.
von Christa Meves
Die von den Gebrüder Grimm um 1800 gesammelten Volksmärchen waren bis dahin keineswegs einfach Kindergeschichten, wie sie heute – sie verkürzend – angesehen werden, sondern symbolische Darstellungen über den Lebenskampf des Menschen, des Kampfes nicht nur mit den finsteren Mächten draußen, sondern auch mit denen in ihnen selbst. Sie sprechen das Unbewusste des Menschen unmittelbar an und entfalten von dort her auch ihre moralische Kraft, die durch das obligatorische Happy end grundsätzlich einen ermutigenden Einfluss auf die Seele des Menschen – schon auch auf die Kinderseele hat.
Wir haben uns als Pantomime der Kinder – dem Tagungsthema entsprechend – das Märchen von Brüderchen und Schwesterchen ausgewählt. Und es lohnt sich sehr, über die Aussage dieses Märchens nachzudenken. Die Unterschiede zwischen Mann und Frau kommen jedenfalls im Märchen von Brüderchen und Schwesterchen eindrucksvoll zur Darstellung.
Ich nehme an, dass nicht alle mehr das Märchen im Kopf haben. Deshalb zunächst eine kleine Inhaltsangabe:
Ein Geschwisterpaar ist einer bösen Stiefmutter ausgeliefert und läuft fort in de Wald. Dort hat die Böse aber bereits alle Wasser verzaubert. Der Durst – besonders aber des Brüderchen – wird so groß, dass er beim dritten Bach die Warnungen des Schwesterleins, die die Gefahr erlauscht hat, missachtet und in ein Reh verzaubert wird. Das ging noch glimpflich ab. Wenn er – ungewarnt vom aufmerksamen Schwesterchen – schon früher seinem Durst nachgegeben hätte, wäre er ein Tiger und beim zweiten Mal ein Wolf geworden.
Ein Häuslein im Wald wird entdeckt, aber von dort entspringt das Reh der sorgsamem Schwester, weil der König zur Jagd bläst. Der jagt – in der üblichen dreimaligen Stufenfolge der Märchen – dem Reh nach und findet zum Schwesterlein, zu dem er in Liebe entbrennt, es auf sein Schloss heimführt und heiratet.
Die böse Hexe und ihre Tochter aber neiden das Glück, sie überfallen die Königin im Wochenbett nach der Geburt eines Kindes und lassen sie im Bad verdampfen. Die falsche Braut wird stattdessen ins Königsbett gelegt. Die Königin erscheint dreimal des Nachts als Geist und fragt nach Kind und Reh. Eine Dienerin erlauscht das und teilt es dem König mit, der erweckt seine Frau zum Leben und die bösen Weiber werden zum Tode verurteilt.
Happy end. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute. Das tun sie in der Tat:
In symbolischer Urweisheit spiegelt dieses Märchen große wissenschaftliche Erfahrung der Geschlechterpsychologie und Hormonforschung: Es ist der Mann, hier in Gestalt des Brüderchens, der – ganz wie es dem männlichen Hormonstatus und Gehirn entspricht – die Initiative zur Flucht aus der Fron einer unerträglichen Situation – hier in Gestalt der Hexenstiefmutter-Schikanen ergreift. Das Schwesterlein erweist sich – wie heute für die Frau durch Hirnforschung erhärtet – als die Hellhörige beim Erkennen von existenzbedrohlichen Gefahren: Das Schwesterlein hört, was der jeweils verzauberte Bach flüstert – nämlich durch Trinken aus einem der vergifteten Bäche verzaubert zu werden. Die Eigenschaft der Ungeduld wird dem Mann eher zum Verhängnis als der Frau (er trinkt eben doch); aber weil er immerhin eine Weile auf die Warnungen des klugen Schwesterleins gehört und seinen Durst bezwungen hat, kommt er einigermaßen gut davon.
Trotz seines geschwächten Zustandes (in Gestalt seines Tier-Status) folgt der Mann aber aktiv seinem Antrieb zur Jagd, d.h. seinem Bedürfnis nach Selbstverteidigung. Dadurch schafft er unbewusst die Voraussetzungen zur Rettung: im Märchen in Gestalt der Annäherung des Königs. Auch in diesem Märchen ist das Gott. Es findet die Heilige Hochzeit, die Hieros gamos statt, wie schon die Griechen die persönliche duale Verbindung zwischen Gott und Mensch bezeichneten. Das heißt in der Sprache unseres Märchens: Geduld, Hellhörigkeit, Sorgsamkeit, Krankendienst, also alles in allem: Liebe zum Brüderchen Mensch tragen mit Hilfe des wieder-belebenden Wunders von Gott (das ist der König) den Sieg des Guten in der Frau über Neid, Niedertracht und Intrige davon. Und auch das Kind, Symbol für die Hoffnung auf Zukunft, wird durch die aufmerksame, wache, dienende Liebe der Frau (in Gestalt der Dienerin) aus den Klauen des mörderischen Lügengeistes gerettet.
Damit ist die große Tiefe dieses Märchens keineswegs voll interpretiert; aber um ihnen mehr zu verdeutlichen, bräuchten wir ein ganzes Seminar. Doch hoffe ich, dass allen Eltern hier im Saal aufgegangen ist, was für eine unverzichtbare Seelenspeise unsere Volksmärchen noch heute für unsere Kinder sind; denn unbewusst versteht ihre Seele und wird so angeregt, den Weg des Guten zu gehen, der im besten Fall ein Weg zu Gott ist.